Nachricht | Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - GK Geschichte Andresen/van der Steen (Ed.): A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s; Basingstoke 2016

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Die 1980er-Jahre rücken zusehends in den Fokus der zeitgeschichtlichen Forschung. Sie waren das Jahrzehnt der „geistig-moralischen Winde“ wie auch eines des Protestes. Die Jugendkulturen jener Jahre hatten und haben Auswirkungen bis heute, man denke nur an die Folgen des Punks auf Design, Mode und Musik oder die der ökologischen Bewegung für Ernährung, Wohnen, Energieversorgung und Mobilität.

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes resultieren aus einer Tagung „A European Youth Revolt, 1980-81?”, die vom 15. bis 17. Mai 2014 am Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISH) in Amsterdam stattfand (Tagungsbericht auf Englisch). Nach der ausführlichen Einleitung der Herausgeber und einem theoretischen Beitrag von Sebastian Haunss (Bremen) finden sich 16 Artikel zu sozialen Bewegungen, Subkulturen und Protestereignissen in Ländern Ost- und Westeuropas.

Die Herausgeber legten bei der Tagung den Fokus auf zwei Dinge. Zum einen räumliche Aspekte und zum anderen Prozesse der Subjektivierung. „Räumlich“ meint hier die Verortung in einem konkreten, meist urbanen, lokalen Raum und die gleichzeitige transnationale Bezugnahme auf andere, ähnliche oder ähnlich erscheinende Szenen an anderen Orten. Subjektivierung meint zum einen die wichtige Bedeutung von Kommunikation, Musik und Emotionen für die Funktionsweise des Protestes und der Bewegungen, zum anderen ein neue Form der individuellen und kollektiven Vergesellschaftung, die sich vom dahinsiechenden sozialdemokratischen Planstaat jener Jahre abhebt. Der Begriff der „Subjektivierung“ erinnert jedenfalls an das Konzept der „Selbstkonstitution“, wie es in der regulationstheoretisch angeregten Bewegungsforschung um Joachim Hirsch schon verwendet wurde. In den meisten Ländern waren die Jugendproteste jedenfalls, so Andresen/van der Steen ein richtungsweisender Bruch mit den Mustern der (alten) neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre.

Ein großes Problem in der ganzen Diskussion und Forschung sind die Begriffe. Wird von Jugendkulturen, von sozialen Bewegungen, von Aktion und Protest, gar (Jugend-)Gewalt gesprochen? Wollten diese Bewegungen die (Zivil-)Gesellschaft reformieren und die Demokratie verbessern, oder nicht vielmehr am besten gleich radikal abschaffen? Und wie wäre das alles im europäischen Maßstab zu sehen? Kann die italienische Hausbesetzerbewegung mit der anarchistischen Bewegung in Schweden überhaupt sinnvoll verglichen werden, vorausgesetzt man hätte das vor? Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen zum Beispiel der Punkbewegung in Jugoslawien und der im Westen lassen sich aber sehr wohl feststellen.

Haunss macht zu diesem Problemkomplex in seinem inspirierenden Beitrag einige ordnende Bemerkungen. Unter dem Leitmotiv „Terms are not innocent“ fragt er, ob der Fokus mehr auf einer generationellen Perspektive („Jugend“) oder eher auf der der Aktionsformen („Protest“/“Gewalt“) liegt. Er weist auf das ideelle und kulturelle Hinterland hin, das alle dissidenten Formen benötigen. Neben den Räumen und Netzwerken sind dies vor allem die damit zusammenhängenden Alltagspraktiken, die geteilten Normen und Wertehorizonte der Gegenkultur.

Die nachfolgenden Beiträge sind meist Studien zu einzelnen Szenen oder zu sozialen Bewegungen und (militanten) Protesten in einzelnen Ländern. Hier reicht der Bogen vom Punk in Großbritannien, Polen und Ljubljana über die Selbstorganisation von sog. Behinderten in der sog. Krüppelbewegung in Westdeutschland bis zur Hausbesetzerbewegung in Wien, Amsterdam, Zürich und Wien. Wie soziale Bewegungen mit der politischen Kultur des Nationalstaats verbunden sind, zeigen die Beiträge zu Italien und Spanien eindrücklich. In Spanien sind die sozialen Konflikte in der Phase der transición (1975-1982) nach dem Ende der Franco-Diktatur noch stark vom Cleavage „Kapital-Arbeit“ dominiert. Neue soziale Bewegungen bildeten sich nur vergleichsweise zaghaft heraus. Die AkteurInnen fühlen sich vom Rest Europas isoliert. Im gleichen Zeitraum (1979-1982) befindet sich in Italien die „autonomia“ auf dem Rückzug und breitet sich gleichzeitig in die Gesellschaft hinein aus. In beiden Ländern ist der Umgang mit den desaströsen Folgen steigenden Heroinkonsums innerhalb der Bewegungen ein Thema.

Zwei Beiträge bieten am Ende des Bandes nochmals einen breiteren, auch interpretierenden Rahmen. Am Beispiel von Zürich 1980/81 (Jan Hansen) und Westdeutschland 1980-87 (Jake P. Smith) werden hier die zeitgenössischen Fremddeutungen des Protestes referiert. In beiden Ländern gab es offizielle Kommissionen, die die Entstehung, die Bedeutung und die Folgen des Jugendprotestes erklären sollten. Sie waren Bestandteil der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“, die ja bereits in den 1960er Jahren begonnen hatte. In diesen Diskussionen wurden zwei Frames angeboten. Entweder wurde der Jugendprotest psychologisch als post-adoleszentes Phänomen einer verlängerten Jugend und einer „Weigerung erwachsen zu werden“ gedeutet, oder politisch-kriminologisch als vor allem der Polizei zu überlassendes, abweichendes Verhalten. Beide Deutungen betrieben sozusagen ein „othering“, indem sie die Jugendunruhen und die von ihr vertretenen Thesen und Rationalitäten als außerhalb des aufgeklärten, modernen westlichen Diskurses stehend diffamierten.

Die Herausgeber nennen ihren Band ein Kaleidoskop, was ja sowohl Vielfalt als auch Ausschnitt bedeuten kann. Die von ihnen ausgewählten Beiträge skizzieren kein vollständiges - dies wäre auch unmöglich -, aber ein enorm vielfältiges Bild. Jenseits der Beiträge von Hansen, Haunss und Smith verfolgen sie vor allem eine Binnenperspektive, greifen auch in der Regel weit über die beiden Jahre 1908/1 hinaus. Der Band zeigt eindringlich, dass noch weitere Forschung zu diesem Thema nötig ist. Dabei wäre dann auch zu fragen, inwiefern der Jugendprotest zur Herausbildung des Neoliberalismus, seinen Konsummustern und seinem Verständnis von Lohnarbeit beitrug – und was dabei genau Ursache und was Wirkung war.

Bernd Hüttner

Knud Andresen/Bart van der Steen (ed.): A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2016, xviii, 277 Seiten, ISBN 978-1-137-56569-3, ebook USD 79,99, Hardcover USD 100